18.11.2022
Das Stillschweigen brechen
Zur Queer-Film-Nacht am 21. November 2022 gibt Elene Naveriani mit „Wet Sand“ den Außenseiter*innen des ländlichen Georgiens eine Stimme. Das düster-poetische Drama ist ein filmisches Manifest gegen Homophobie.
Ein Dorf am Schwarzen Meer in Georgien, mit freundlichen Menschen, die glauben, sich zu kennen. Eines Tages wird Eliko erhängt aufgefunden. Seine Enkelin Moe reist aus der Stadt an, um die Beerdigung zu organisieren – und stößt auf ein Netz aus Lügen, das sich über zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit spannt.
„‚Wet Sand‘ ist ein Film, der einiges an Aufmerksamkeit, und vor allem sehr viel Geduld erfordert. Sie zahlt sich aus: Letztendlich wird die Bewegung triumphieren.“
Anja Kümmel
Zusammen mit ihrer neuen Freundin Fleshka bricht Moe das Schweigen und erfährt die tragischen Hintergründe von Elikos verborgenem Liebesleben mit Amnon.
Seine Premiere feierte das zugleich melancholische und hoffnungsvolle Drama über Generations-übergreifende Solidarität und queere Selbstermächtigung in Locarno, wo Hauptdarsteller Gia Agumava in der Sektion Cineasti del presente als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde.
Im Gespräch mit Elene Naveriani
„Wet Sand“ folgt vier Jahre auf deinen ersten Spielfilm, „I Am Truly a Drop of Sun on Earth“. In der Zwischenzeit hast du einen Kurzfilm und einen Dokumentarfilm gedreht. Was war der Ausgangspunkt für diesen zweiten Spielfilm?
Elene: Mein älterer Bruder Sandro ist Drehbuchautor, und er hatte begonnen, an diesem Skript zu arbeiten. Die Idee kam vollständig von ihm. Er fragte mich, ob ich mit ihm zusammenzuarbeiten wolle und so fingen wir an, das Projekt gemeinsam auf die Beine zu stellen und uns Gedanken zu machen zur Inszenierung. Ab einem gewissen Stadium zog Sandro es jedoch vor, dass ich alleine die Regie übernehme. In Fragen der Inszenierung neigte er immer mehr dazu, meine Konzeption des Filmemachens zu übernehmen. Es stellte sich als Geschenk heraus. In meiner Art von Kinomachen versuche ich, das Unsichtbare sichtbar zu machen, unhörbaren und untergeordneten Stimmen Gehör zu verschaffen und Randexistenzen in den Mittelpunkt zu rücken. Meine Art von Filmschaffen ist vor allem eine Sprache des Widerstands gegen das Leugnen und Vergessen. Dennoch verbleibt vieles davon, was mein Bruder beigesteuert hat, schon allein in Bezug auf die Struktur. Sandro ist ein professioneller Drehbuchautor und „Wet Sand“ ist zweifellos von allen meinen Filmen derjenige, der in Bezug auf die Erzählweise am meisten strukturiert und geordnet ist. Daher ist er vielleicht auch von allen der klassischste, obwohl dieser Begriff sehr relativ ist.
Wo wurde der Film gedreht?
Elene: Am Ufer des Schwarzen Meeres, in der Nähe von Poti. In einem winzigen Fischerdorf. Ein Ort, an dem nichts passiert, außer dem, was von den wenigen Einwohnern erlebt wird. Das ist in etwa das Abbild dessen, was in Georgien passiert: eine stark zentralisierte Macht und eine Peripherie, die sozusagen verlassen ist. Sandro wollte eben wegen dieser isolierten Lage dort drehen. Als ich das Dorf zum ersten Mal sah, war ich sofort einverstanden, dass es der ideale Ort für unsere Geschichte war. Sie musste unbedingt an einem weitläufigen und weit entfernten Ort stattfinden, um die Menschen, ihre Gefühle, Ängste und Kämpfe zur Geltung zu bringen. Abgesehen von den konzeptionellen Fragen ist das Dorf filmisch sehr ansprechend und hat fast universellen Charakter: Es könnte sich genauso in Süditalien, Spanien, Kroatien oder Japan befinden. Ein sprödes, abweisendes, unfreundliches Dorf. Festgefahren in seinen Traditionen, in denen man das Gefühl hat, alles sei abgestorben, bleiern. Das Gefühl, das es verströmt, ist universell. Auch der Kontrast zwischen Bewegung und Erstarrung. Eine Natur (ein Meer in Bewegung), die nie zum Stillstand kommt, die sich bewegt, spricht, sich ständig verändert und Menschen, die in ihren Traditionen und Ängsten gefangen sind. Dieser Film thematisiert auch den Generationenkonflikt, also etwas, was in Bewegung ist, und etwas, was endet und stirbt. Denn trotz der Wellen und der gigantischen Sonne bewegt sich manches überhaupt nie.
Dein Film zeigt Menschen, die leiden und gar sterben, weil sie ihre Liebe geheimhalten oder verbergen und die uralten und erstarrten religiösen und sozialen Institutionen anlügen müssen.
Elene: Genau. Eine Schicht des Filmes drückt die Notwendigkeit aus, die Traditionen zu erneuern und neue Werte zu setzen. Die patriarchalische, heteronormative Kultur, die die Gesellschaft daran hindert, sich fortzuentwickeln, propagiert die Pseudo-Identität und vernichtet die Vielfalt. Und genauso läuft es heutzutage in vielen Ländern. Aber was im Film zu sehen ist, spiegelt nur einen kleinen Teil der Situation wider. Die Realität ist dramatischer und grausamer als im Film dargestellt. Jeden Tag passiert etwas, das zeigt, dass man in Georgien nicht lieben und zusammenleben darf, wenn man nicht der Norm entspricht. Deshalb schlage ich etwas Drastisches am Ende des Films vor. Auch wir haben einen Ort, an dem wir sein dürfen und wir werden da sein, aber der Weg dorthin wird lang sein.
Welche Rechte werden LGBT+-Menschen in Georgien gewährt?
Elene: Keine. Die queere Gemeinschaft ist andauernder Repression ausgesetzt. Die Kirche spielt dabei eine Rolle, aber auch die allgemeine geopolitische Situation: Politisch richtet sich Georgien in jeder Hinsicht nach den Entscheidungen Russlands, so auch in LGBT-Fragen. Das kleine Land ist der Wucht des Kolonialismus, des Einflusses, der wirtschaftlichen Macht Russlands nicht gewachsen. Der Alltag von queeren Menschen ist heute sehr hart. Verbände und Alternativaktionen versuchen, sich zu organisieren, jedoch außerhalb des Gesetzesapparats, der eigentlich ihren Schutz gewährleisten sollte.
In dem Film taucht eine Jacke auf, die hier während unseres Gesprächs hinter dir zu sehen ist. Auf ihr steht zu lesen: Follow Your Fucking Dreams…
Elene: Ja, sie ist nicht bloß ein Requisit oder ein dekoratives Element. Ich habe sie für den Film geschaffen, und sie gab es bereits im Drehbuch. Ich wurde sehr stark von der Punk-Bewegung geprägt, die ihre Slogans als Waffe einsetzte. Das Motto der Punks war No Future. Mein Motto ist positiver: Wir brauchen diesen verdammten Traum…
Heute ist oft die Rede vom Woman gaze, vom weiblichen Blick. Gehört dein Film dazu?
Elene: Was ist der weibliche Blick? Keine Ahnung, denn ich selbst weiß nicht mehr, ob ich mich dem weiblichen oder dem männlichen Blick zuschreibe, ich habe mich „de-/identifiziert“. Das „Unbehagen der Geschlechter“ interessiert mich weitaus mehr als die essenzialistische Definition.
Denkst du, dass es einen politischen Blick gibt?
Elene: Ja, absolut. Eindeutig. Diesen Film zu machen ist eine Form von Aktivismus. Ich kann davon erzählen, was politisch heute in Georgien oder anderswo abläuft. Natürlich gibt es immer unterschiedliche Blickweisen, doch worin liegen diese Unterschiede? Kann man sie allein auf das Geschlecht, auf das weibliche Geschlecht begrenzen? Jede Regisseurin hat ihre eigene Sensibilität. Was mich interessiert ist, dass jede Person ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre politische Kultur und ihre Struktur hat. Dies auf einen Gegensatz zwischen weiblichem und männlichem Blick zu reduzieren, ist mir zu oberflächlich. Die Unterschiede sind tiefgreifender und beziehungsreicher für mich. Ich kann nur den Blick von Elene für mich beanspruchen. Dennoch glaube ich, dass Filmen und Erzählen in der heutigen Zeit interessanter sind und weniger aus männlicher, weißer und heteronormativer Sichtweise erfolgen.
Das Interview wurde im Juli 2021 von Philippe Azoury geführt.