15.10.2022

Familiengeheimnisse und Geschlechterrollen

Eine Frau im roten Abendkleid lässt sich mit ausgestreckten Armen im Wasser treiben. Ihre Augen sind geschlossen und ihr Gesichtsausdruck ist entspannt.

Foto: Flare Film, Siri Klug

Uli Decker erzählt mit „Anima – Die Kleider meines Vaters“ die berührende Lebensgeschichte ihres Vaters als tragisch-komische Achterbahnfahrt durch animierte und dokumentarische Bilderwelten – und wurde dafür dieses Jahr mit dem Max-Ophüls-Preis für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.

Die kleine Uli will Pirat oder Papst werden, aber auf keinen Fall den Rollenstereotypen ihres bayerischen Heimatortes entsprechen. Nach dem Tod ihres Vaters bekommt sie von der Mutter seine „geheime“ Kiste als Erbe ausgehändigt. Der Inhalt – hochhackige Schuhe, künstliche Fingernägel, Schminke und eine Echthaarperücke – verändert schlagartig ihren Blick auf den Vater, ihre Familie und die Gesellschaft, in der sie aufwuchs.

 

„Es gibt nur sehr wenige Filme, die klüger, witziger und vielfältiger über geschlechtliche Diversität nachdenken als dieser.“

Ulrich Sonnenschein

In ihrem Kinodebüt geht Regisseurin Uli Decker einem unerwarteten Familiengeheimnis auf den Grund. Sie öffnet Tagebücher und sich selbst für einen Dialog mit ihrem vor Jahren verunglückten Vater, zu dem sie zu Lebzeiten eine seltsame Distanz hatte. Eine berührende Vater-Tochter-Geschichte über Freiheitsräume, Identitätssuche und Genderfragen in unserer Gesellschaft.

 

 

Uli Decker über ihren Film

Als ich aufwuchs, war mir klar, dass einem bestimmte Dinge auf keinen Fall über die Lippen kommen dürfen, weil man sie noch nie jemanden sagen gehört hat. Das Unsagbare wird unfühlbar, undenkbar, unsichtbar, unlebbar – verbannt in die geheimen Winkel, die sich mit niemandem teilen lassen. Dort bleibt jeder einsam, während an der Oberfläche ein anderes Stück aufgeführt wird. Schweigen und Scham graben sich in jede Körperzelle und prägen uns, auch wenn wir gar nichts von ihrer Ursache wissen.

Seit mein Vater starb und ich sein Geheimnis erfuhr, hatte ich einerseits das Gefühl, dass das Leben mir eine Geschichte gegeben hatte, die erzählt werden müsse, andererseits versuchte ich, ihr zu entkommen. Doch sie holte mich immer wieder ein. Daraus einen Dokumentarfilm zu machen, war für mich lange Zeit schwer vorstellbar, denn ich hatte Panik, meine Familie und mich dadurch bloßzustellen und allzu Privates auszuplaudern.

Beim Ringen um die Form half mir die Entscheidung, mit Fantasie und Humor zu spielen und den teils tragischen Inhalt auf formaler Ebene in einen hybriden, queeren, teils barocken, letztlich lebensbejahenden Film zu übersetzen. Wichtig war mir vor allem, die Zuschauer auf eine innere Reise mitzunehmen, die enge Kategorien sprengt und den Blick öffnet für tiefe menschliche Erfahrungen und den weiten Sehnsuchtshorizont.